Noam Chomsky, der Missverstandene
Warum der intellektuelle Superstar nicht hält, was er verspricht.
Noam Chomsky dürfte einer der wichtigsten “Public Intellectuals”, öffentlichen Intellektuellen, der letzten rund 100 Jahre sein. Ein einflussreicher Linguist, der jenseits seiner akademischen Arbeit als jahrzehntelanger scharfer Kritiker der US-amerikanischen Aussenpolitik und der Funktionsweise der Massenmedien weltweite Berühmtheit erlangte.
Für seine kritische Haltung ist Chomsky aber auch berüchtigt. Immer wieder gab es Ereignisse, bei denen Chomsky zu äusserst fragwürdigen Schlüssen kam. Bei denen sich der Verdacht aufdrängt, dass Chomsky mit unterschiedlichen Massen misst, abhängig davon, wie genehm ihm die jeweilige politische Machtkonstellation ist. Ein Denken, das bei genauerem Hinschauen nicht präzise, sondern schablonenhaft wirkt.
Chomskys Ansichten sind aus einer kritisch-progressiven Sicht, die weniger Leid und mehr lebenswerte Leben priorisiert, heikel. Darüber zu diskutieren ist nicht einfach, weil Chomsky im links-progressiven Lager so etwas wie Heldenstatus hat.
Lasst es uns trotzdem versuchen.
Der Linguist
Bevor wir uns Chomskys politischen Ansichten widmen, sei der Vollständigkeit halber erwähnt: Er ist beruflich eigentlich Linguist. Und zwar ein sehr erfolgreicher.
Chomsky hat das Feld der Linguistik stark geprägt. Er führte zum Beispiel das Konzept der Universalgrammatik ein. Universalgrammatik besagt, dass alle menschlichen Sprachen auf einer gemeinsamen universalen grammatikalischen Struktur beruhen, die Menschen angeboren, nicht antrainiert ist.
Chomsky führte auch das Konzept der sogenannten Chomsky-Hierarchie ein (Den Namen “Chomsky-Hierarchie” haben andere Wissenschaftler:innen geprägt, nicht Chomsky selber. Wäre aber lustig gewesen.). Die Chomsky-Hierarchie ist eine Klassifikation formaler Grammatiken nach ihrem Potenzial, formale Sprachen zu generieren. Das Konzept hat auch heute noch grosse Bedeutung u.a. in der Informatik.
2023 veröffentlichte Chomsky mit zwei Koautoren einen Artikel über ChatGPT und künstliche Intelligenz in der New York Times1. Im Artikel kritisiert er ChatGPT und ähnliche Chatbots, die als Large Language Models operieren, aus seiner philosophischen Perspektive: Chatbots seien nur eine Illusion von Intelligenz, denn das “Betriebssystem” von Menschen sei sprachlich und kognitiv ein kategorisch anderes als die Modelle bei ChatGPT und Co. Menschliche Denken beruhe auf eleganter und effizienter Universalgrammatik und dem Erschaffen von Erklärungen. Im Kontrast dazu ist KI eine statistische Maschine, die anhand Unmengen an Daten probabilistische Outputs generiert. Ein lesenswerter Text, der Chomskys linguistische Ansichten verständlich zusammenfasst.
In der breiten Öffentlichkeit ist Noam Chomsky aber nicht wegen seiner linguistischen Forschung bekannt. Er ist ein Star, weil er seit Jahrzehnten über Politik, Ökonomie und Politökonomie spricht und dabei kein Blatt vor den Mund nimmt.
Der Politökonom
Chomsky hat mehr als Hundert (richtig gelesen: 100) Bücher zu Politik verfasst, mitverfasst oder als Sammelwerke seiner Artikel, Reden und Interviews erstellt. In zwei seiner frühen Bücher, “American Power and the New Mandarins” von 1969 und “At War with Asia: Essays on Indochina” von 1970, verurteilte er den Vietnamkrieg scharf, aber fundiert. Er entsprach nicht dem Bild des bekifften Hippie, der platte Anti-Kriegsparolen skandiert. Er war ein Denker, der mit der Gegenseite intellektuell problemlos mithalten konnte — und sie oft überschattete.
Diese Qualität als analytisch starker linker Kritiker, der gleichermassen streitlustig wie wortgewandt ist (Chomsky konnte stets wunderbar und vor allem wunderbar verständlich, ohne akademisches Bla Bla und ohne unverständlichen Jargon, reden), machte ihn zu einem intellektuellen Star.
Auch war er immer für spektakuläre öffentliche Debatten zu haben. Zum Beispiel 1971 mit dem postmodernen Philosophen Michel Foucault (tl;dw: Chomsky argumentiert, m.E. schlüssig und korrekt, dass es universale, rational begründbare gesellschaftliche und moralische Ziele gibt, die wir verfolgen sollten. Foucault argumentiert, dass es so etwas nicht geben kann, weil die Mittel, um solche Schlüsse zu ziehen, nie objektiv sind, sondern immer im Rahmen unfreier Strukturen und Machtabhängigkeiten entstehen. Nimmt man dieses relativierende Argument ernst, löst es sich rekursiv selber auf, weil auch das, was Foucault sagt, dadurch fundamental irrelevant wird. Aber ich schweife ab. Zu Postmodernismus mehr bei einer anderen Gelegenheit.).
Chomsky hat so viel geschrieben, dass es ein etwas grösseres Unterfangen wäre, all seine Werke im Detail zu besprechen. Das ist aber auch nicht nötig, denn sein übergeordnetes analytisches Framework blieb über die Jahre ein recht konsistenter roter Faden.
Chomsky hat einen politökonomischen Blick auf die Gesellschaft. Er kritisiert die wechselseitige Bestärkung politischer und wirtschaftlicher Akteure zu Ungunsten der allgemeinen Bevölkerung, die in dieser Dynamik der Akkumulation von Reichtum und Macht leidet und ausgebeutet wird. Und er kritisiert, dass journalistische Massenmedien in ihrer Berichterstattung strukturell bedingt eine Elite-freundliche Perspektive einnehmen und damit Propaganda zu ihren Gunsten machen. Und zwar sowohl bei innenpolitischen Angelegenheiten als auch in Fragen von Aussenpolitik, Diplomatie und Krieg. Diese kritische Perspektive wird vielleicht in keinem Buch so deutlich wie in Manufacturing Consent2.
Manufacturing Consent erschien 1988 und wurde vom Ökonomen Edward Herman mit Chomsky als Koautor verfasst. Im Buch beschreiben die Autoren unterschiedliche Filter oder verzerrende Faktoren, die dazu führen, dass journalistische Medien tendenziell die Perspektive wirtschaftlicher und politischer Eliten wiedergeben. Und zwar — dieser Punkt ist zentral — ohne, dass es im Hintergrund eine grossangelegte Verschwörung gibt. Medien werden nicht von geheimen Strippenziehern kontrolliert, sie werden nicht aktiv orchestriert, um Propaganda zu verbreiten. Der Mechanismus ist in Wahrheit viel subtiler: Systematische Fehlanreize in der journalistischen Praxis, die in der Summe zu einer strukturellen Verzerrung führen.
Einer dieser Fehlanreize: Zugang zu Eliten. Journalistische Medien sind bemüht darum, Zugang zu wirtschaftlichen und politischen Eliten aufrecht zu erhalten. Eliten verfügen über Ressourcen für das Aufbereiten von Geschichten. Journalist*innen greifen auf diesen Vektor an Informationen sehr gerne zu. Das schafft aber auch Abhängigkeit: Allzu kritische Berichterstattung über die betroffenen Eliten könnte zur Folge haben, dass Eliten den Informationshahn zudrehen und den für Journalist*innen so wichtigen Zugang zu ihnen abklemmen.
Ein anderer Faktor: Das Profitmotiv. Viele grosse Medienhäuser sind private, profitorientierte Unternehmen. Das schafft Zielkonflikte. In den letzten Jahrzehnten hat im Zuge der Medienfinanzierungskrise (Werbung wird heute auf Social Media geschaltet und immer weniger in klassischen Medien) u.a. Medienkonzentration zugenommen. Grosse Medienhäuser kaufen kleine auf, bauen Stellen ab und veröffentlichen mehr Einheitsbrei. Die Vielfalt im Mediensystem nimmt ökonomisch bedingt ab. Es gibt weniger Dissens, weniger Pluralismus.
Manufacturing Consent wurde zu einem Klassiker, weil das Buch das diffuse Gefühl vieler Menschen, freie journalistische Medien würden nicht gar so frei und kritisch berichten, wie sie könnten, in ein konkretes und gut verständliches analytisches Gefäss überführt. Hierin liegt Chomskys grösste Stärke: Gesellschaftskritik in verständlicher Sprache von der unpräzisen Ebene des Bauchgefühl und einzelner Anekdoten auf die Ebene der systemischen Analyse zu bringen.
Wo genau steht Chomsky ideologisch? Seine Weltanschauung war immer weit weniger radikal oder extremistisch, als man vermuten könnte. Chomsky war philosophisch und politisch nie Kommunist. Er kritisierte Trotsky, Lenin, Stalin wie auch die Sowjetunion bzw. marxistisch-leninistische Staaten allgemein. Den Untergang der Sowjetunion und der, wie er sie ausdrücklich nennt, sowjetischen Tyrannei, begrüsste er unmissverständlich3:
When the Soviet Union collapsed I wrote an article describing the events as a small victory for socialism, not only because of the fall of one of the most anti-socialist states in the world, where working people had fewer rights than in the West, but also because it freed the term “socialism” from the burden of being associated in the propaganda systems of East and West with Soviet tyranny — for the East, in order to benefit from the aura of authentic socialism, for the West, in order to demonize the concept.
Diese Position mag überraschen. Jemand, der jahrzehntelang die Symbiose wirtschaftlicher und politischer Macht in kapitalistisch organisierten Ländern kritisiert, muss doch grundsätzlich für die Kommunisten sein? Nein. Chomsky, der sich als libertärer Sozialist und Anarchist beschrieb4, erachtete die Sowjetunion als explizit anti-sozialistisch, da Arbeiter*innen im Ostblock noch weniger Rechte hatten als in westlichen kapitalistischen Staaten. Mit dieser Diagnose hatte er natürlich recht.
Der Eiferer
Das klingt soweit alles im Wesentlichen konsistent und schlüssig. Ein Kritiker, der übergeordnete Prinzipien hat und Kritik aus ihnen ableitet; egal, wen sie trifft. Man kann Chomsky in dieser Lesart grundsätzlich gut oder schlecht finden, aber seine Argumente sind stringent, da sie sich aus klaren (moral-)philosophischen Prämissen ergeben. Würde die Geschichte hier enden, sie wäre so etwas wie ein Happy End.
Doch leider enthält Chomskys Geschichte auch Kapitel, die ganz anders ausfallen. Kapitel, in denen Chomsky nicht sauber anhand klar definierter Prinzipien analysiert, sondern eher umgekehrt seine Analyse so verdreht, dass sie das zeigt, was sie zeigen soll. Immer, wenn westliche Länder, insbesondere die USA, in internationale Konflikte involviert sind, ist das, was die Gegenseite macht, für Chomsky nicht gar so schlimm — und das, was westliche Medien berichten, ist immer nur Propaganda. Das ist das übergeordnete Meta-Narrativ, das bei Chomsky sehr oft mitschwingt und in bisweilen erstaunlicher Gehirnakrobatik mündet, um Ansichten zu rechtfertigen, die schon a priori fix vorgegeben sind. Ein starker Confirmation Bias, der in hanebüchenen Anstrengungen mündet, Sachverhalte, die Chomsky für sich genommen moralisch scharf verurteilen würde, zu relativieren und zu verharmlosen.
Die Tendenz zu diesem Confirmation Bias zeigte sich bei Chomsky schon früh. Zum Beispiel beim Genozid in Kambodscha in den 1970er Jahren. Damals massakrierten die kommunistischen Khmer Rouge mindestens 1.5 Millionen Menschen, überproportional viele davon ethnische und religiöse Minderheiten.
Als die Gräueltaten der Khmer Rouge im Westen bekannt wurden, reagierten Chomsky und Herman (der Koautor von Manufacturing Consent) auf die Berichterstattung mit einer im Nachhinein gleichermassen analytisch falschen wie moralisch beschämenden Pauschalisierung und Relativierung. Die Berichte über den Genozid seien “extreme Anti-Khmer-Rouge-Verzerrungen” und westliche “Propaganda”. Schuld an den vielen Toten in Kambodscha seien in Wahrheit — die USA5.
Versteht mich nicht falsch. Ich will die USA überhaupt nicht in Schutz nehmen. Henry Kissinger orchestrierte die gigantische Bombardierung Kambodschas, bei der mindestens 500’000 Zivilpersonen getötet wurden6. Diese Kriegsverbrechen der USA in Kambodscha gelten historisch als wesentlicher Faktor, der den Khmer Rouge die Machtergreifung ermöglichte7. Aber weil die USA brutale Kriegsverbrechen in Kambodscha begangen haben, relativiert das den Genozid der Khmer Rouge in keiner Weise und macht die Kritik an diesem Genozid nicht zu westlicher Propaganda. Es ist in der Realität möglich, dass mehr als eine Sache schlimm ist und wir beide mit guten moralischen Gründen kritisieren.
Chomskys Ansichten zum Zerfall Jugoslawiens und der Jugoslawienkriege sind nicht minder sonderbar. Eine der nach meinem Dafürhalten dunkelsten Episoden aus Chomskys Schaffen sind seine Kommentare zum Bosnienkrieg 1992 bis 1995. Im serbischen Fernsehen erklärte er8, die von ethnischen Serben betriebenen Konzentrationslager in Bosnien seien gar keine Konzentrationslager gewesen, sondern Flüchtlingslager, die die Insassen jederzeit verlassen konnten. Das Foto eines abgemagerten Insassen kommentierte Chomsky als bloss “dünnen Mann”, neben dem sicher auch ein dicker Man gestanden habe, den die Medien aber nicht zeigen wollten. Also auch hier: Alles nur westliche Propaganda.
Chomskys Kommentare sind ungeheuerlich. Nicht minder ungeheuerlich ist seine Haltung zu den Genoziden in Srebrenica 1995 und Ruanda 1994.
Edward Herman (von Manufacturing Consent) und David Peterson veröffentlichten 2010 ein — ich kann es nicht anders beschreiben — in epistemischer Hinsicht sehr irres Buch: “The Politics of Genocide”9. Darin argumentieren sie, dass Genozid ein Kampfbegriff ist, mit dem die Interessen des US-amerikanischen Imperialismus und Grosskapitals geschützt werden, indem unliebsame Regierungen und Staaten diffamiert werden. Zu den Beispielen, die das belegen sollen, gehören für die Autoren Srebrenica und Ruanda.
Herman und Peterson erklären in hanebüchenem Geschichtsrevisionismus, dass es gar nicht klar sei, wie die meisten der rund 8’000 ermordeten Männer und Jungen in Srebrenica gestorben seien. Für Ruanda behaupten sie, dass nicht zwischen 500’000 und 800’000 Tutsi von Hutu-Milizen ermordet wurden — sondern dass ganz im Gegenteil rund zwei Millionen Hutu von Tutsi ermordet worden seien. Beide Behauptungen sind in ihrer Losgelöstheit von der Realität geradezu surreal. Die Genozide in Srebrenica und Rwanda gehören zu den am besten dokumentierten der Geschichte1011.
Chomsky schrieb in diesem Buch das Vorwort. Von einem (linken) Journalisten auf den Inhalt angesprochen, nahm Chomsky das Buch und die Autoren in Schutz. Und erklärte, dass all das, was die USA über die Jahre verbrochen haben, viel schlimmer sei als die Frage, wie viele Menschen in Srebrenica “exekutiert” wurden oder, wer wen in Ruanda umgebracht habe12. “Exekutiert” stellte Chomsky selber in Klammern. Um zu signalisieren, dass so etwas wie absichtliche systematische Morde in Srebrenica vielleicht gar nie stattgefunden haben.
Das hat nichts mehr mit intellektuell redlicher Analyse zu tun. Das ist blosser Eifer eines grundlegend und umfassend irrationalen Menschen.
Chomskys Tendenz zu uferlosem Confirmation Bias zeigte sich auch in der jüngeren Vergangenheit. Die amerikanische Präsenz im Nahen Osten kritisiert Chomsky scharf als Imperialismus, aber beispielsweise Russlands Beteiligung am syrischen Bürgerkrieg zugunsten des al-Assad-Regimes ist für Chomsky genauso wenig Imperialismus wie die militaristische Aussenpolitik des theokratischen Regimes im Iran13.
Auch den Ukraine-Krieg kommentierte Chomsky im Sinne seines schablonenhaften Meta-Narrativs der USA, die für alles schuld und viel schlimmer als der Kreml sind. Er erklärte, der russische Angriffskrieg sei selbstverständlich von den USA provoziert worden. Aber darüber dürfe man nicht reden. Man dürfe nicht wissen, was die russische Seite sage. Das werde “unterdrückt”. Das Ausmass an Zensur sei heute in den USA so gross wie noch nie in seinem Leben14. Schweden und Finland seien der NATO nicht wegen Sicherheitsbedenken beigetreten (das ist alles nur westliche Propaganda), sondern ausschliesslich, um mehr Waffen zu verkaufen15. Und die NATO habe in der Ukraine ja bereits eine Invasion durchgeführt16 (Was er damit meinen könnte, erschliesst sich mir nicht.). Der grosse Plan: Die NATO existiere heute, um im Krieg der USA gegen China, den die USA planen, eingesetzt zu werden17.
Die Politik des Kreml relativiert Chomsky nicht erst seit der jüngsten Phase des Ukraine-Krieges. Als Russland 2014 den Krieg gegen die Ukraine startete und die Krim annektierte, kommentierte er: Ja, die russische Invasion der Ukraine und die Annexion der Krim sei völkerrechtswidrig — aber das sei viel weniger schlimm als die de-facto-Annexion von Guantanamo Bay durch die USA18 (Kurz zum Kontext: Grundlage für die US-Präsenz in Guantanamo Bay ist ein Pachtvertrag von 190319. Dieser war aber nicht freiwillig, denn die USA hatten nach der Unabhängigkeit Kubas 1902 immer noch Kontrolle über Kuba).
Das ist Whataboutism auf höchstem Niveau. Chomskys Position “Aber die USA” als Reflex auf jedes Ereignis, auf jeden negativen Zustand der Welt, die seine a-priori-Einteilung in die kategorisch schlechten USA vs. die kategorisch weniger schlechten oder guten Widersacher der USA in Frage stellen, ist fast Satire ihrer selbst.
Was bleibt? Nicht nichts — aber auch nicht viel
Auf einer abstrakten Ebene ist Chomskys kritisches Framework, etwa bei Manufacturing Consent, nach wie vor durchaus nützlich. Journalistische Medien stehen nicht über den gesellschaftlichen Zuständen und berichten losgelöst und “neutral”. Sie sind ein Produkt gesellschaftlicher Zustände und strukturell genauso verankert und verzerrt wie jede andere Aktivität in jeder anderen Domäne. Manufacturing Consent hilft, diesen Umstand zu konzipieren und damit kritisierbar zu machen.
In Chomskys konkreteren politischen Analysen, in denen er nicht übergeordnete Konzepte vorstellt sondern konkrete politische Konstellationen analysiert, zeigt sich leider eine überdeutliche, fast schon tragische Verzerrung. Er misst mit sehr unterschiedlichen Ellen. Die USA und westliche Medien kritisiert er unablässig und kategorisch. Gleichzeitig unternimmt er grosse argumentative Anstrengungen, Akteure, die in Konflikten so etwas wie das Gegenpol zu den USA zu bilden, zu relativieren, zu beschönigen, zu rechtfertigen. Das Ergebnis sind bestenfalls intellektuell faule Whataboutism-Ablenkungsmanöver (die Annexion der Krim ist nicht gut, aber was ist mit der Annexion von Guantanamo Bay?) und schlimmstenfalls beschämende Geschichtsklitterung (in Srebrenica und Ruanda sei alles ganz anders passiert als gemeinhin geglaubt).
Es erübrigt sich eigentlich, zu sagen, dass das eine unseriöse Form der Analyse ist. Wenn man Kritik nicht systematisch und stringent anwendet, sondern die Kriterien für die Kritik ad hoc ändert oder ignoriert, sobald die übergeordnete Geschichte, das übergeordnete Meta-Narrativ, an das man glauben will, in Gefahr ist, übt man sich nicht in philosophisch fundierter Kritik, sondern in trivialer, banaler Sophisterei. Ein Herumplanschen in den seichten Gewässern des Confirmation Bias. Die USA greifen den Irak an? Zu verurteilen — ohne Wenn und Aber. Russland greift die Ukraine an? Zu verurteilen — Aber.
Ich befürchte, dass genau dies ein wesentlicher Grund für Chomskys Status als intellektueller Superstar ist. Es geht gar nicht mehr um die Qualität seiner Argumente. Es geht um eine einfache, wohltuende Geschichte, die die Welt möglichst ohne Grautöne erklärt. Eine emotionale Bestätigung einer unterkomplexen Sicht, die sich wie ein unpassendes Puzzleteil nicht ganz in die Realität fügen mag. Bis es der Chomsky-Hammer passend macht. Wusste ich es doch. Das Problem ist nicht meine Sicht der Dinge. Das Problem sind, einmal mehr und für immer, die USA.
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